Blick in den Spiegel
Mein neuer Spiegel im Bad,
umkränzt von hellen Lichtern,
zeigt mir lachend die Zähne:
"Hab nur Mut, keine Scheu!
Komm und schau mich an!"
Als ich vor den Spiegel trete,
bemerke ich, dass da draußen
ein hässlicher Mann lauert.
Er ist mein einziger Verehrer.
Sein Name ist Bruder Hein.
Schaudernd wende ich mich ab.
Nackt und bloß steh ich da
und betrachte mein Spiegelbild
und stelle mit Entsetzen fest:
Der Zahn der Zeit nagt an mir.
Eine Brust fehlt, die andre so lala,
dafür ein paar Jahresringe mehr.
Schmuck und Schminke, wozu?
Wozu mich rasieren, parfümieren,
da mein Liebster fort ist?
Unter meinem roten Schopf
lugen graue Schläfen hervor.
Seit er mich verlassen hat,
bin ich noch mehr ergraut,
da hilft selbst Färben nichts.
Mein Blick ist trüb geworden.
Der Kummer hat tiefe Furchen
in meine Mundwinkel gegraben.
Die Nase verstopft vom Heulen,
bekomm ich kaum noch Luft.
Einst waren seine hellen Augen
mein Spiegel, aus dem eine Frau
mich voll Seligkeit anstrahlte.
Elende Augen, sie zeigten mir
nur ein trügerisches Zerrbild!
Mein Spiegel im Bad hingegen,
er spricht immer die Wahrheit:
"Es gibt mehr Schneewittchen
als Äpfel an den Bäumen sind,
alles Gift würde nicht reichen.
Ein schönes heißes Wannenbad
tut wohler als eiskalte Rache."
Ich zupfe mir ein Haar vom Kinn,
und eine lavendelfarbene Woge
spült alsbald meine Tränen fort.
(Bild: Niels Peter Bolt, Sitzende junge Frau mit Spiegel)
Halbe Frau - 10. Sep, 14:56
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